Leben Nummer 2

Leblos hängt der rechte Arm in einer Schlinge. Nichts geht mehr so wie vorher. Sprechen, Heben, Anziehen, ganz alltägliche Dinge – er ist auf Hilfe angewiesen. Völlig aus heiterem Himmel kam der Schlaganfall, er ist erst Anfang 50. Tagelang hat er mit dem Leben gerungen, jetzt ist er stabil, aber es sind Schäden zurückgeblieben. Er wird nicht mehr arbeiten können, wahrscheinlich auch nicht im Haus bleiben, die vielen Treppen schafft er nicht mehr, Autofahren geht auch nicht mehr. Und dann dieser furchtbare Schwindel.

Einige Wochen war er so verzweifelt, dass er Schluss machen wollte, aber das kann er seiner Frau und den Kindern nicht antun. Inzwischen hat sich irgend etwas verändert, genau kann er es gar nicht sagen. Die tiefe Erschütterung, sie ist noch da, aber sie beherrscht nicht mehr jede Minute. Da ist noch etwas anderes in ihm – etwas, worüber er nur staunen kann. „Ich entdecke täglich Neues.“, erzählt er. „Dafür hatte ich früher keine Zeit in all dem Stress und der Hektik. Jetzt rieche ich den Wald, lausche morgens auf die Vögel, lasse mich vom Windhauch streicheln, trinke Farben, sehe die Gesichter der Menschen um mich herum – spüre mein Leben. In den letzten Jahren, ja Jahrzehnten habe ich das Leben aus den Augen verloren. Jetzt ist alles fremd und neu und wie verzaubert.“ Und dann sagt er: „Mein Leben Nummer 2!“.

Ist das nicht eine feinsinnige, aufwühlende Liebeserklärung an das Leben? Das mehr ist als Karriere und körperliche Unversehrtheit?

Manchmal ist es ein Zusammenbruch, der Menschen dazu bringt, „Leben Nummer 2“ zu ergreifen. Ich frage mich: Können wir nicht auch auf andere Weisen lernen, dass das Leben kostbar ist und jeder Moment ein Geschenk Gottes? „Ich danke dir, dass ich wunderbar gemacht bin. Wunderbar sind deine Werke, das erkennt meine Seele.“ (Psalm 139, 14).

Ihre Daniela Hammelsbeck, Müllheim

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