Im Watt
Heftig bläst der Wind, es ist kühl und nass, der Sommer scheint heute zu pausieren – und doch stehen einige Menschen barfuß im Schlick des Wattenmeeres – mitten im August vor der Nordseeinsel Baltrum. Sie feiern Gottesdienst – vor einem Tisch, der ins Watt gestellt ist. Darauf ein Kreuz, ein Rosenstock, eine Bibel und eine Tischdecke, die schon ziemlich verzogen ist durch den Wind.
Eindrücklich, dieser Altar im Sandschlick. Er hat etwas Vorläufiges, Provisorisches. Rechtzeitig muss er abgebaut werden, wenn er nicht in den Fluten untergehen soll. Genauso wie auch wir zeitig ans Land zurückmüssen. Die Urgewalt des Meeres ist an diesem einfachen Tisch im Wattschlick ablesbar.
Das riesige Meer. Ein ewiges Kommen und Gehen. Und ich kleiner Mensch hier im Watt. Mein kleines Leben. Wenn ich sehe das Meer … deiner Finger Werk, Sterne, Sonne, Mond … was ist schon der Mensch, dass du seiner gedenkst – so ähnlich fragt ein alter Psalm (Psalm 8). Und er gibt selbst die Antwort: keine Sorge – Gott gedenkt ja seiner Menschen, Gott nimmt sich seiner Menschenkinder an, sie liegen ihm am Herzen.
Manchmal fühlt sich das Leben an wie ein tosendes Meer: rau, unbarmherzig, nicht zu beruhigen oder gar zu bezwingen. Mittendrin fühlt man sich hilflos ausgeliefert, hin- und hergetrieben, auf der Suche nach einem Halt. Da ist es dann gut, sich zu erinnern, dass Gott selbst es ist, der „all Angst, Furcht, Sorg und Schmerz in Meeres Tiefen hin“ werfen kann (Evang. Gesangbuch 322, 5).
Am Ende klappen die Leute den Tisch zusammen und tragen ihn aufs Land zurück. Nur kurze Zeit später überflutet das Wasser den Gottesdienstort wieder.
Was bleibt, ist die tiefe Sehnsucht nach der Weite des Meeres:
Danach, immer wieder gerettet zu werden aus den Fluten und Stürmen des Lebens. Und zu spüren, dass wir in einen großen Zusammenhang gehören – zwischen Himmel und Meer.
Erich Fried formuliert das so:
Wenn man ans Meer kommt
soll man zu schweigen beginnen
bei den letzten Grashalmen
soll man den Faden verlieren
und den Salzschaum
und das scharfe Zischen des Windes einatmen
und ausatmen
und wieder einatmen
Wenn man den Sand sägen hört
und das Schlurfen der kleinen Steine
in langen Wellen
soll man aufhören zu sollen
und nichts mehr wollen wollen nur Meer
Nur Meer
(Aus Erich Fried, Warngedichte, 1964)
Daniela Hammelsbeck, Müllheim