Predigt über Jes 66, 10-14 an Lätare (22.03.2020)

Freut euch mit Jerusalem und seid fröhlich über die Stadt, alle, die ihr sie lieb habt!
Auch alle, die ihr über sie traurig gewesen seid, freuet euch mit ihr!
Denn nun dürft ihr saugen und euch satt trinken an den Brüsten ihres Trostes; denn nun dürft ihr reichlich trinken und euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust. 
Denn so spricht der Herr: Siehe, ich breite aus bei ihr den Frieden wie einen Strom und den Reichtum der Völker wie einen überströmenden Bach. 
Da werdet ihr saugen, auf dem Arm wird man euch tragen und auf den Knien euch liebko­sen.
Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet; ja, ihr sollt an Jerusalem getröstet werden.
Ihr werdet ́s sehen und euer Herz wird sich freuen. 

Liebe Gemeinde!

Ihr werdet noch mal an mich denken!“ Meine Mutter seufzt und lässt sich im Stuhl nach hinten fallen.

Wir haben mal wieder heiß miteinander diskutiert – meine Eltern, mein jüngerer Bruder und ich als Teenager. Argumente fliegen hin und her. Verschiedene Lebenserfahrungen werden ausgetauscht. Wir Kinder hielten mit unserer Kritik nicht hinter dem Berg – und haben es doch genossen, dass wir sie in einer liebevoll-familiären Runde äußern durften. Mein Vater hat gern den advocatus diaboli gespielt und die Diskussion erst recht angeheizt. Alle reden durcheinander, bis meine Mutter – vielleicht haben wir uns da auch gerade ein bisschen über sie lustig gemacht – sich auf dem Stuhl zurückfallen lässt, dann seufzend diesen Satz aus­ruft: Ihr werdet noch mal an mich denken. 

Schon heute kann ich sagen: Es stimmt. Oft denke ich zurück an das, was sie mir vermittelt hat und wie sie es tat. Auch wenn ich als Jugendliche manches Mal nicht mit ihr überein­stimmte. „Ihr werdet noch mal an mich denken!“ Hinter diesem Ausruf steckt eine tiefe Wahrheit. Und ich muss schmunzeln, wenn ich an die Szene von damals denke.

Ihr werdet noch mal an mich denken!“ Den Ausruf an sich kann man ja so und so lesen.
Man kann ihn deutlich als Mahnung verstehen, fast als Drohung. Mit erhobenem Zeige­fin­ger, belehrend und voraussehend: „Und dann, wenn ihr dann an mich denkt, dann wird es euch leidtun!“
Aber hier ist es anders gemeint. Mutter Gott erinnert ihre Kinder. Eine Mahnung ist es wohl, aber doch tröstlich und ermutigend. „Ihr werdet ́s sehen und euer Herz wird sich freuen!“

Dabei hatte Gottes erwählte Volk zu jener Zeit Freude lange vermissen müssen. Es wird den Israeliten nicht leichtgefallen sein, dieser Vorhersage zu glauben. Sie hatten ein­fach zu viel durchgemacht. Hin- und hergetrieben von den immer mächtiger werdenden Nachbarstaaten, Assyrien, Babylonien, Ägypten. Zu Bündnissen verlockt, die ihrem

Land gar nicht gut taten; als kleiner Staat hatten sie gegen die Großen eh keine Chance. Schließlich ins Exil verfrachtet, aus Jerusalem und ganz Judäa nach Babylonien, vor allem die Oberschicht. Stadt und Tempel wurden zerstört. Gottes Volk sollte ausbluten. 

Gott sei es gedankt – kam dann zwar die Wendung: Rückkehr in die Heimat und damit neue Hoffnung für Jerusalem und den Tempel auf dem Berg Zion. Gottes Kinder endlich wieder zuhause. Aber einfach war das nicht. Die alte Heimat hatte sich verändert. Wie so viele Menschen, die nach einem Krieg aus Gefangenschaft nach Hause kommen, mussten sie feststellen, nichts ist mehr, wie es einmal war. 

Und doch, die Vision des Propheten ist klar. Gottes Stimme ist deutlich: Ihr werdet an mich denken! Ihr werdet euch freuen. Ihr werdet es schon erleben, wie wieder neues Leben in alles kommt. Müde Arme tragen wieder. Wankende Knie bergen Kinder auf dem Schoß und wippen heiter auf und ab. Freut euch! Ihr werdet ́s sehen! 

Einfach ist es auch für uns gerade nicht. Mein Mann sagte neulich zu mir: „Kannst du dich erinnern, dass es seit dem 2. Weltkrieg so eine Situation wie die Corona-Krise in Eu­ropa gab?“ Nein, mir ist nichts Vergleichbares eingefallen. Und ich denke, das macht einen guten Teil der Unsicherheit unter uns aus. Wir haben keine Erfahrungswerte, wie wir mit der Pandemie umgehen sollen. Sind die ergriffenen Maßnahmen ausreichend? Oder sind sie viel zu hart? Wir sind auch nicht geübt darin unser gewohntes Leben einzuschrän­ken. Haben wir nicht in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten die Annehmlichkeiten, die das Leben uns bieten kann, immer weiter ausgebaut? Und jetzt sollen wir plötzlich verzich­ten – auf die Chorprobe oder die Geburtstagsfeier, auf den Theaterabend oder das Fußball­training.

Dabei geht es uns immer noch gut: Wir haben ein Gesundheitssystem, das zwar die ein oder andere Schwäche hat, in dem aber viele gut ausgebildete und engagierte Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger arbeiten. Wir stehen gelegentlich vor leeren Regalen, aber es werden doch immer wieder Waren nach geliefert. Es gibt Menschen, die sich zum Bei­spiel wegen Vorerkrankungen Sorgen machen müssen und um die ich mir Sorgen mache. Aber für viele würde eine Erkrankung „nur“ bedeuten, zwei Wochen das Bett zu hüten, wie es auch bei einer Grippe der Fall ist. Wenn ich mir vorstelle, was geschehen wird, wenn die Menschen in den Flüchtlingslagern an der griechisch-türkischen Grenze an dem Corona-Virus erkranken … Da sehe ich auch eine Verantwortung für uns: Nicht nur auf die eigenen veränderten Umstände zu starren, sondern die im Blick behalten, die einem viel größeren Risiko ausgesetzt sind. Lassen Sie uns für diese Menschen beten und öffentlich eintreten.

Und da sagt Gott nun: „Ihr werdet an mich denken! Ihr werdet euch freuen.“ Kaum zu glauben. Sicher, wir hoffen, dass die Krankheitswelle abebben wird. Aber wann? Wir wissen es nicht. Für mich wirft die Corona-Krise Schatten voraus bis zum Osterfest. Wir sollen aus Gründen der Hygiene vorerst auf die Feier des Abendmahls verzichten. Das ist theologisch durchaus zu begründen: Gerade aus evan­gelischer Perspektive ist die Verkündi­gung des Evangeliums Zentrum jeden Gottes­diens­tes. Dem dienen sowohl die Predigt als auch die Feier des Abendmahls, und das heißt im Umkehrschluss: Wir können durchaus auch ohne Abendmahl angemessen Gottesdienst feiern. Trotzdem merke ich: Mir wird etwas fehlen, wenn wir an Karfreitag nicht hören „Christi Leib, für dich gegeben.“ und an Oster­sonntag: „Der Kelch des Heils, für dich.“

Nein, wir wissen noch nicht, wie es weitergehen wird. Aber Gott weiß Bescheid. Wie eine liebevolle und weise Mutter. Und Menschen wie Jesaja schenken ihrer Zusage Glau­ben. Ihr werdet ́s sehen und euer Herz wird sich freuen.

Ich finde die Formulierungen des Propheten erstaunlich: Jesaja beschreibt Gott nicht – wie wir es gewohnt sind – als Vater. Sondern er spricht von Gott als einer Mutter, ja sogar einer stillenden Mutter. „Nun dürft ihr saugen und euch satt trinken … (ihr dürft) euch erfreuen an ihrer vollen Mutterbrust.“ Ein starkes Bild für Gott als Quelle des Lebens, wo wir neue Kraft finden, aber auch Trost und Geborgenheit.
Stellen Sie sich das doch einmal genau vor: Gott ist wie eine liebevolle, lebenskluge Mutter. Wir sind hier bei ihr. Mit Gott an einem Tisch. Und Gott – wie eine Mutter – schaut offen in die Runde. Sie kennt dich, seit du geboren bist; wie alle ihre Kinder. Sie sieht die Jahre, als die Kinder klein waren und staunt, was daraus geworden ist. Sieht, wie sie auf­wachsen, dann aber flügge werden und ihre eigenen Wege gehen. Sieht, was sie zustande bringen und woran sie scheitern. Sieht sie Fehler machen und darf sich nicht einmischen, denn das mögen sie gar nicht, die Kinder. Gott sieht sie in ihren besten Jahren, voller Saft und Kraft und Tatendrang, wie sie Bäume ausreißen können. Sieht, was du alles leistest und in Angriff nimmst. Sieht auch, wenn die Kräfte nachlassen; wenn du grau wirst; wenn alles auf einmal verwirrend wird, was früher leicht von der Hand ging. 

Sieht dabei immer wieder auch, wie ihre Kinder sich regelmäßig die Köpfe einhauen, und sie kann nichts dagegen tun. Sie können es einfach nicht lassen. Immer wieder Streit und Kon­flikte, was für ein Elend. Wie oft sitzt sie dann da, Mutter Gott, und weint.
Am meisten aber schmerzt es sie, wenn ihre Kinder sich von ihr abwenden, wenn sie sie einfach links liegen lassen. Und was sie dann für Ausregen zu ihrer Verteidigung vorbringen, Kinder, Kinder! 

So, stelle ich mir vor, geht Gottes Blick durch unsere Runde, während wir munter durchein­an­der gewürfelt hier sitzen. Mitten unter uns, Jesus, ihr Sohn, ganz die Mutter, ganz der Vater. Und der Blick quillt von Liebe über. Denn beide wünschen sich nichts sehnlicher, als dass es allen gut geht und wir Frieden haben. Dass alle sicher und geborgen sein kön­nen. „Ich will euch trösten, wie einen seine Mutter tröstet.“ Denn ich bleibe euch treu. Ich gebe euch Halt. „Euer Herz wird sich freuen!“ Ihr werdet ́s sehen. 

Heimatlosigkeit, Fremde, Verlorenheit, sie gehören bei Gott der Vergangenheit an. Ja, selbst dann noch, wenn wir den Tod vor Augen haben – verloren, fremd oder heimatlos sind wir auch dann nicht bei Gott. Wirklich Angst zu haben brauchst du erst, wenn du gottver­lassen bist. Aber das wird von seiner Seite aus nicht passieren. Genau darin liegt der tiefe Grund der Freude verborgen. In dieser Treue Gottes zu seinen Kindern. In seiner Liebe zu uns – unabhängig davon, ob wir es verdienen. Das ist unser Trost, dass wir uns da­rin im Leben und im Sterben bei Gott geborgen wissen. Wir sind sein.

„Ihr werdet noch mal an mich denken!“ Wir können heute sagen: Es stimmt. Können Abbitte leisten, für alles, was wir Gott jemals im jugendlichen Leichtsinn geboten haben; wir können uns aber auch freuen – wie damals die Menschen in Jerusalem und wie ein Kind sich freut, wenn es auf Knien geschaukelt wird; wie wohl jeder sich freut, wenn er nach einem schwe­ren Tag nach Hause kommt und es ist friedlich dort. Und jemand wartet auf dich, nimmt

dein Gesicht in die Hände und sagt: „Lass dich anschauen.“ „Erzähl, wie geht es dir“. „Hast du schon gegessen?“
Seid fröhlich über solchen Gott, über seine Liebe, die wir mit der Muttermilch aufsaugen. Sie will sich unter uns ausbreiten wie ein breiter Strom oder ein überströmender Bach. Sie fließt so reichlich, dass wir sie weiter geben können. Gerade jetzt in Zeiten der Unsicher­heit. Ermutigen wir die Ängstlichen. Unterstützen wir die, die ihre eigenen vier Wände nicht verlassen dürfen, etwa indem wir für sie einkaufen.

Was hindert uns, schon jetzt immer wieder daran zu denken und der Welt zu zeigen, dass es wahr ist, dass die Liebe stärker ist. Ihr werdet ́s sehen und euer Herz wird sich freuen! 

Amen

Marika Trautmann, Pfarrerin in March