Quasimodogeniti - Predigt von Pfr. i. R. Gerhard Jost

19.04.2020- Quasimodogeniti

Hebet eure Augen in die Höhe und seht! Wer hat dies geschaffen? Er führt ihr Heer vollzählig heraus und ruft sie alle mit Namen; seine Macht und starke Kraft ist so groß, dass nicht eins von ihnen fehlt. Warum sprichst du denn, Jakob, und du, Israel, sagst: Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber? Weißt du nicht? Hast du nicht gehört? 

Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich. Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Männer werden müde und matt, und Jünglinge straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden."   Jes. 40, 26 - 31 

 

Liebe Gemeinde, als ich noch aktiv im Dienst war, kamen zu mir viele Leute in die Seelsorge. Einheimische und Kurgäste. Aber besonders Kurgäste, denn in der Zeit der Kur bricht so manches auf, was durch den Arbeitsalltag überdeckt wurde, so dass es kein Nachdenken und Besinnen gibt, auf das, was an Defiziten da ist. Nachdenken über Zerbrochenes. 

Mir stehen einige Menschen vor Augen, die mit schwerem Leid und mit großen Enttäuschungen gekommen sind. Ganz und gar bedrückt, oft völlig am Ende. Ich wollte helfen, ichwollte trösten und neuen Mut schenken und entdeckte manchmal: so einfach geht das gar nicht. Da dringen die Worte gar nicht durch. Es ist so wie bei einem Regenschirm. Da prallt das Wasser ab; es dringt nicht ein. So ging es mir mit meinen Worten. Aber am meisten machen mir die Menschen zu schaffen, die eine Änderung versuchen ohne Gott oder an Gott vorbei, und für die der Glaube gar kein Halt ist. 

Da ist es ganz, ganz schwierig zu trösten. Ich hab' entdeckt: Trost ist eine Kunst, die erlernt, geübt, aber vor allem erbeten sein will. Der Schreiber unseres Predigttextes ist so ein Tröster. Dazu war er von Gott berufen, von ihm begabt worden. Er wollte seinem verzweifelten Volk Mut machen, sie aufrichten, tragfähigen Trost geben. Sein ganzes Buch, und wir wissen nicht wie der Autor heißt, der die Kapitel 40 - 55 geschrieben hat im Jesajabuch, dieses Buch ist ein einzigartiges Trostbuch. Er schreibt an Menschen, die am Ende sind. Innerlich und äußerlich. Sie sind in Babylonien. Weit, weit weg von der Heimat und das schon mehr als vierzig Jahre lang. Nur die Allerältesten können sich noch erinnern an das Land der Väter, das Gott Abraham, Isaak und Jakob versprochen hat. 

587 v. Chr. sind sie dahin verschleppt worden, nachdem die Babylonier gesiegt haben im Krieg. Sie waren also Kriegsgefangene. Sie zählten zu den oberen Zehntausend, die man abgeschleppt hatte. Jetzt glauben sie sich an diesem fremden Ort verlassen und vor allem von Gott vergessen. Sie sind nicht nur in einer Lebenskrise, sie sind in einer ganz tiefen Glaubenskrise. Ihre Frage ist nur die: 

Warum hat uns Gott nicht geholfen, warum hat er sein Volk nicht beschützt und bewahrt? Ist er am Ende selbst zu schwach? Ist er ein hilfloser Gott, der von den fremden Heeren und fremden Göttern sich fortscheuchen ließ? Nun sind sie schon so lange in Babylon in diesem fremden Land, dessen Sprache sie nicht verstehen, dessen Mentalität ihnen so fremd ist, wo sie Befehle erhalten von Menschen, die sie unterdrücken. Wo sie Speisen essen müssen, ganz und gar nicht ihrem koscheren Speisegebot entsprechend, sondern eben Speisen, die es dort gab. 

Sie hören von diesen fremden, mächtigen Göttern von Marduk und Ischtar und wie sie alle heißen. Dann macht die Frage die Runde, welche Zukunft haben wir noch zu erhoffen? Gibt es überhaupt noch Träume, die zu träumen sich lohnen? Oder werden wir hier im Sand der Wüste Babylons einmal verscharrt werden? Und der Glaube, welchen Sinn hat er überhaupt, wenn unser Gott so schwach, so fern, so hilflos ist? Nun gibt der Prophet in wörtlicher Rede wieder, was seine Zeitgenossen denken und fühlen. Er sagt: "Mein Weg ist dem HERRN verborgen, und mein Recht geht vor meinem Gott vorüber". Das ist ihre Situation. Alles haben sie verloren. Resigniert wie vielleicht mancher in diesen Tagen. 

Die Heimat, das Recht, Gott selbst und den Lebenssinn—alles steht zur Disposition. Menschen, die kaputt sind, die am Ende sind. Ist uns das so fremd? 

Da ist mir ein lieber Mensch gestorben. Ich habe aufrichtig darum gebetet: Gott, schenk ihm noch einige Jahre. Aber es wurde nicht erhört, dieses Gebet. Gott, warum bist du so fern meinem Beten? Unter uns sind Menschen, die ihre liebgewordene Heimat verlassen mussten. Entweder nach dem zweiten Weltkrieg oder die Anfang der 90iger Jahre aus Russland zu uns kamen. Es ist so schwer hier neu Fuß zu fassen. Da ist die Beziehung eines Menschen in hohem Maße gefährdet, weil das Verstehen im Laufe der Jahre mühsam geworden ist und weil die Träume des einen so anders sind, als die Wirklichkeit, in der man lebt. Man ist am Ende und weiß doch, dass Flucht auch nichts bringt. 

Jetzt ruft der Prophet den resignierten Menschen zu: Hebt eure Augen in die Höhe, blickt nicht auf euch, auf eure begrenzten und eingeschränkten Möglichkeiten. Schaut doch nicht auf eure Schwachheit, auf euer Versagen, auf eure Zweifel. Wer auf sich schaut, der ist gleich am Ende. Schaut hoch, erhebt eure Häupter. Einer ist da, dem bist du nicht egal. Einer ist da, von dem bist du geliebt. Einer ist da, der hat Zukunft für dich, der nimmt dich so wie du bist. Brutto. Einer gibt dich nicht auf. 

Einer ist da, der dich keinen Augenblick von deinem Geschick je entfernt hätte. Jetzt merkt man es diesem Text an, der Prophet möchte die Leute nicht beschwatzen, nicht überreden. Er sagt ganz einfach: Schaut doch einmal die Schöpfung an. Wer hat denn das alles gemacht? Kannst du, Mensch, der du dich für so intelligent hältst, etwa einen Regenwurm machen oder eine Rose oder einen Vogel? Zerstören in Sekunden kannst du' s, da bist du groß drin, du Mensch. Aber machen, das ist immer noch Gottes Sache. Herstellen und erzeugen kannst du nur totes, aber Leben schafft Gott allein. Das ist seine Sache. Oder, Mensch, wie ist es um deine Macht bestellt? Du kennst doch deine Verletzlichkeit, deine Empfindsamkeit. Du weißt doch, wie oft du himmelhochjauchzend bist und im nächsten Augenblick schon wieder zu Tode betrübt. 

Mit deiner Macht kannst du wirklich nicht prahlen, Mensch. Wer es tut, der wird nur schnell daran erinnert, dass am Ende seines Lebens der Tod steht. Dagegen richtet menschliches Wollen und Können gar nichts aus. Ob das der Grund dafür ist, weshalb hier in diesem ganz kurzen Text dreimal das Wort "Müdigkeit" steht, Resignation? Es ist, als hörte ich jetzt die allermeisten von Ihnen sagen: "Ja, so geht es mir, ich bin so oft resigniert, so oft kaputt, mit meinem Latein am Ende". "Für meine Beziehung sehe ich keine Perspektive mehr". "Ich glaube nicht wieder ganz gesund werden zu können". "Meine Kinder gehen eigene Wege, das tut mir weh". "Ich bin auf ein Abstellgleis beruflich gestellt". "Ich gehöre zum alten Eisen und bin gerade erst 60 Jahre". "Mich versteht keiner". 

Wer von uns kennt dieses Gefühl nicht, überflüssig zu sein, irgendwo unter „Fernerliefen" mitgezogen zu werden, keinen Sinn mehr zu sehen. Am Ende ist für einen solchen Menschen, der sich so einlullt in diese Gedanken auch der Glaube kein Halt mehr, keine Orientierungshilfe. Aufgeben, wegwerfen, das ist das einzige, was einem dann noch in den Sinn kommt. Wir haben keine Kraft mehr, der Hektik und den vielfachen Forderungen des Alltags nachzukommen. Was also ist zu tun? Einige fliehen. Sie saufen dann, was das Zeug hält oder werfen sich Tabletten rein, nur um zu vergessen, aber das Aufwachen ist umso schlimmer. 

Oder sie fliehen in fernöstliche Meditationspraxen oder sie wenden sich der Esoterik zu oder versuchen es einmal mit Steinen, die sie in der Hand halten und meinen, davon würde etwas ausgehen. Dabei sind die genauso tot, wie alles andere auch. Flucht ändert nichts. Sie macht uns die Situation, in der wir stehen, nur so bewusster. Das wissen wir wohl: Rezepte gegen Müdigkeit gibt es nicht. Diese Pillen bekommt man in keiner Apotheke. Aber Wege gibt es. Auf solch einen Weg will der Prophet uns heute Morgen mitnehmen, der Prophet von dem dieser Text stammt. Sein ganzes Buch, diese 15 Kapitel beginnen mit den Worten: "Tröstet, tröstet mein Volk, redet mit Jerusalem freundlich". 

Merken Sie es? Dieser Mensch lässt nicht Appelle los, denn er weiß mit Appellen wird keiner wach. Er mutet ihnen auch keine Durchhalteparolen zu, er redet freundlich, verständnisvoll, seelsorgerlich, er tröstet. Müde Gewordene darf man nicht anbrüllen, das hat keinen Sinn. Man darf sie nicht  herausfordern, das bringt nichts. Man kann sie nur aufrichten, indem man ihnen neue Wege, neue Ziele zeigt und indem man selber bereit ist, ein Stück Wegs mitzugehen. Müdigkeit gibt‘s für mich nur da, wo man sich überfordert fühlt. Sie kann auch ein Zeichen dafür sein, dass man das Ziel für sein Leben und für sein Arbeiten, für seinen Glauben und Hoffen verloren hat. Ja, das möchte ich mit Ihnen bei diesem Propheten des Alten Testamentes heute Morgen lernen. Das Trösten und Aufrichten, das Zurechthelfen, so dass Menschen, die uns Gott an die Seite gestellt hat, wieder neuen Mut bekommen und festen Boden unter den Füßen verspüren. 

Wie macht der das nun, der Prophet? Er sagt zuerst: "Hebt eure Augen in die Höhe und seht". Also das ist das Erste, was uns aus Mutlosigkeit und Resignation befreien soll. Wer aufsieht, der guckt nicht länger auf sich und seine Begrenztheit und seine eingeschränkten Möglichkeiten. Wer aufblickt, der blickt voraus, der sieht von sich weg von seinen Blockierungen, von seinen Grenzen, von seinen Problemen und Schwächen. Aber ich beobachte, wie sehr der Müde immer wieder auf sich schaut, wie sehr er über alles nachgrübelt und darum ganz entnervt wird und zerbricht. Diese tiefsitzende Fehlhaltung verhindert den Ausweg. 

Wer in einer Beziehung, die ausgeleiert ist, nur auf die eigene Situation schaut, nur auf sich, auf das eigene Unbefriedigtsein, auf die eigene Kraftlosigkeit, der kommt aus dem Teufelskreis, in dem er ist, niemals raus. "Seht auf', sagt der Prophet. Seht auf, nicht zu den Sternen. Das taten damals die Babylonier und meinten, davon würden Kräfte ausgehen. Das tun auch heute viele Germanen, indem sie Horoskope lesen oder zu Wahrsagern gehen. Glauben Sie etwa wirklich, dass alle, die "Wassermänner" sind und vielleicht am 5. oder 12. Februar geboren sind, das gleiche Schicksal erleben auf der Welt? Israel schaute auf. 

Aber Israel schaute nicht zu den Sternen. Sie schauten weiter. Sie schauten dahinter und schauten trotzdem ganz nah. Sie schauten auf das, was Gott geschaffen hat. Sie schöpften daraus Hoffnung, dass Gott seinen Blick auf sein Volk lenkt und es niemals allein lässt. Auch, wenn er sich abgewandt zu haben scheint. Er, der diese große, unendliche Weite geschaffen hat, der diese Welt mit seinen Händen trägt, der hält auch mein kleines Leben umschlossen. 

Der, der die Gestirne auf ihren Bahnen lenkt, der führt auch mein Leben auf rechter Straße, "um seines Namens willen", wie es im Psalm heißt. Das gilt. Das hat er mir durch Christus deutlich zugesagt. "Hebet eure Augen in die Höhe und seht!" Das heißt im Neuen Testament so: Lasst uns aufsehen auf Christus, den Anfänger und Vollender des Glaubens. Seht auf ihn, der am Kreuz deine Schuld getragen hat, der dich mit seiner Liebe und seinen ausgebreiteten Armen einlädt. Sieh auf ihn, der dich unendlich liebt. 

Deine Last, dein Leiden braucht dich nicht zu zerstören. Du kannst wissen, ich bin geliebt, auch wenn ich im Augenblick eine Durststrecke zu durchwandern habe. Ich bin ihm über alles wertvoll, auch wenn andere sagen, du bist altes Eisen. Leg' doch all' deine Last bei ihm ab. Er kann' s gebrauchen, denn er kann dich gebrauchen. Jesus, der Schuttabladeplatz der Welt. Wenn alle bei uns vom Müllnotstand reden, bei ihm ist Platz für meinen Lebensmüll und ER kann erstaunlicherweise damit etwas anfangen. Darum sagt er: "Sieh auf, sieh auf mich". 

Dann fragt der Prophet: "Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?" So möchte er ganz behutsam diese  Müden bei der Hand nehmen und sie zu einer neuen Erkenntnis begleiten und deutlich machen, so wie Gott in der Vergangenheit sein Volk nicht im Stich ließ, so lässt er dich auch nicht los. Überleg doch einmal, wo hast du ihn schon erfahren in deinem Leben? Hat er dich jemals losgelassen und vergessen? Du bist doch bis zur Stunde bewahrt worden, geführt, versorgt. Vergiss das in deiner Not nicht. Du fragst in gesunden Tagen nie: "Womit hab' ich das verdient?" Warum fragst du in kranken Tagen so? 

Der Psalmbeter sagt: Vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat. Es ist gut, wenn wir in schweren Stunden daran denken: Gott führt und bewahrt uns gnädig. Jeder von uns hat so seine Geschichte mit Gott. Hoffentlich eine offene, oder eine verborgene, eine bewusste oder unbewusste Geschichte. Manchmal merken wir erst im Rückblick, lange Zeit später, wie und wo Gott mächtig seine Hand im Spiel hatte.

Erinnern Sie sich vielleicht an manche besondere Stunde der Bewahrung im Krieg oder auf der Flucht? Am Krankenbett oder eine Bewahrung auf der Straße bei einer langen Autofahrt, wo Sie wider Erwarten gesund und heil heimkamen. Oder wie war das für Sie, die Sie Eltern geworden sind, als Sie zum ersten Mal Ihr Neugeborenes, Ihr Erstes im Arm halten durften? Spielte da für Sie der bewahrende, Leben schenkende Gott keine Rolle? Immer wieder werden wir seine Spuren wahrnehmen. Manchmal entdecken wir, dass unsere Resignation, unsere Müdigkeit seine Wurzel darin hat, dass wir ungehorsam waren, dass wir seine Zeichen und seine Liebe achtlos in den Wind geschlagen haben. 

Schließlich sagt der Prophet: "Der HERR, der ewige Gott, der die Enden der Erde geschaffen hat, wird nicht müde noch matt, sein Verstand ist unausforschlich". Das heißt: Denke nicht zu klein von deinem Gott, denke nicht zu gering. Du kannst ihm vertrauen, auch wenn es dunkel ist um dich. Du kannst ihm dein ganzes Leben anvertrauen, so gefährdet es sein mag. Gott geht es nicht so wie uns. 

Wir werden müde, wir werden schlapp, wir werden auch schwach, je älter wir werden. Aber Gott ist wach, alle Zeit stark. Wir stoßen so oft an die Grenzen unseres Verstandes, aber Gott nicht. Für ihn gibt es keine Grenzen. Auch Ihre Müdigkeit und Ihre Resignation sind für ihn nicht unüberwindbar. 

Er sagt hier im Text: Ich verspreche dir neue Kraft. Als Paulus an die Grenzen seiner eigenen Kraft stieß und auch müde und resigniert wurde, da betete er, und tat das einzige Richtige, was auch wir tun können. Er erhielt von Christus eine kraftvolle Zusage: "Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist den Schwachen mächtig". 

Amen